Zunächst einmal: Ist die Idee wirklich neu? Wie so oft im New-Work-Kosmos handelt es sich um alten Wein in neuen Schläuchen. Dass sich Menschen eines Gewerbes oder einer Branche zusammenfinden, um gemeinsam Löhne auszuhandeln und Preise für Waren und Dienstleistungen festzulegen, wird bereits seit dem Mittelalter praktiziert - anfangs in Form von Zünften und Gilden, welche die konzeptionelle Grundlage für die Idee der Genossenschaften bildeten. Im Zuge der Industrialisierung entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und später auch im deutschsprachigen Raum die ersten genossenschaftlichen Zusammenschlüsse heutigen Formats. Dabei sind die Mitarbeitenden zugleich Miteigentümer und haben bei Unternehmensentscheidungen abhängig von ihren Geschäftsanteilen ein Stimmrecht, d.h. sie können über Preise, Gehälter, Budgets und Unternehmensziele mit abstimmen.
Das führt uns bereits zum ersten Problem, denn in den wenigsten Start-ups sind alle Angestellten gleichberechtigte Anteilseigner. Bei Gehalts- und Budgetverhandlungen herrscht folglich immer ein Machtungleichgewicht zwischen Eigentümern und abhängig Beschäftigten. Die Eigentümer können ihre Entscheidungsgewalt jederzeit durchsetzen und damit wäre der gesamte Vorgang lediglich die Illusion einer Partizipation.
Hinzu kommt, dass bei einzelnen Mitarbeitenden ein eindeutiges Informationsdefizit besteht. Nicht jede Person im Unternehmen ist in der Lage oder willens, Budgetplanungen durchzuführen, intensive Marktforschung zu betreiben oder sich mit den Stellen im Unternehmen in der notwendigen Tiefe auseinanderzusetzen. Auch unterschiedliche Kenntnisstände über die Verhandlungsposition oder „Marktmacht“ der Beteiligten können zu ungleichen Resultaten führen.
Darüber hinaus gibt es eine Reihe subjektiver Einflussfaktoren, die sich negativ auf die Fairness selbst gewählter Gehälter auswirken können. So kann etwa die wahrgenommene Wichtigkeit einer Person einen erheblichen Einfluss darauf haben, wie eine Stelle vergütet wird. Gute oder aggressive Verhandler erzielen bessere Ergebnisse als eher zurückhaltende Persönlichkeiten. Informelle Hierarchien oder Allianzen können den Prozess unbewusst beeinflussen. Im schlimmsten Fall werden Diskriminierungspotenziale sogar noch verstärkt.
Selbst wenn die potenziellen Probleme der sozialen und organisatorischen Interaktion in diesem Prozess beseitigt oder behoben werden können, stellt der Ansatz der vollständigen Partizipation Unternehmen vor große strukturelle Herausforderungen. Ein zentraler Grundsatz zur Erreichung von Lohngleichheit ist das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche / gleichwertige Arbeit“. In einer homogenen, überschaubaren Belegschaft mögen Bauchgefühl oder Wahrnehmung bei der täglichen Arbeit eine ausreichende Richtschnur sein, um eine gleiche Entlohnung vergleichbarer Jobs zu gewährleisten. In der Anfangsphase von Start-ups gibt es oft ähnliche Rollen in Teams, die gegebenenfalls noch durch nicht-analytische Betrachtungen vergleichbar gemacht werden können.
Doch mit zunehmendem Wachstum, immer differenzierteren Aufgaben und neu hinzukommenden Abteilungen oder Fachbereichen treten Probleme auf. Für eine faire Festlegung von Lohnhöhen und Gehaltsbändern ist daher eine analytische Stellenbewertung erforderlich, um Positionen unterschiedlicher Funktionsfamilien mit verschiedenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten vergleichbar machen zu können. Auf diese Weise werden die Stellenprofile geschärft und alle Beteiligten erhalten ein einheitliches und klares Verständnis der internen Zusammenhänge von den Positionen und ihrem jeweiligen Wert.
Ein derartiges Unterfangen erfordert Fachkenntnisse, die in der Regel nicht in der allgemeinen Belegschaft vorhanden sind, und stellt daher aus gutem Grund eine HR-spezifische Aufgabe dar. Das soll nicht heißen, dass der Prozess ohne Mitarbeiterbeteiligung durchgeführt werden sollte und dass die Ergebnisse nicht irgendwann kommuniziert werden - allerdings muss eine derartige Transparenz richtig vermittelt und von Fachleuten begleitet werden.
Gleichzeitig löst eine mit einem einheitlichen Verfahren durchgeführte analytische Stellenbewertung auch die Frage nach der Validität verwendeter externer Gehaltsbenchmarks. Viele frei zugängliche Portale im Internet verwenden zur Bereitstellung von Gehaltsvergleichen nur wenige Kriterien, wie die Stellenbezeichnung, die Qualifikation, die Berufsjahre und eventuell noch die Branche. Die Qualität und Validität der verfügbaren Daten ist nicht immer gewährleistet, da keine qualitätsgeprüften Datenberichte von Unternehmen zum Einsatz kommen, sondern Informationen von Einzelpersonen die Hauptquelle darstellen. Oftmals sind die Zuverlässigkeit der Daten und die Transparenz der Methodik fraglich.
Werden Stellen hingegen mithilfe eines erprobten Standardsystems bewertet, besteht die Möglichkeit, die Bewertungsergebnisse mit geprüften Marktdaten etablierter Anbieter zu kombinieren und so ein realistischeres Bild des Marktpreises einer Stelle zu erhalten. Idealerweise wird hierzu ein Peer-Group-Bericht einer Vergleichsgruppe verwendet, der die für das Unternehmen relevanten Datensätze nach Branche, Umsatz und Größe enthält.
Und zu guter Letzt bietet sich durch eine aus der analytischen Bewertung abgeleitete Stellenarchitektur auch die Möglichkeit, die Verteilung der Ist-Gehälter und Geschlechter nach Grade zu analysieren und so mögliche Diskriminierungen aufzudecken und zu beseitigen.
Mitarbeitende selbst über ihr Gehalt entscheiden zu lassen ist ein komplexes Unterfangen mit vielen Risiken und für sich genommen noch kein Garant für Lohngleichheit. Die an den Gehaltsverhandlungen beteiligten Personen müssen vollständig im Bilde sein, was Budgets, die Vergleichbarkeit von Stellenprofilen, Equal-Pay-Aspekte und die Möglichkeiten und Grenzen externer Marktdaten betrifft.